„Bür-ger-steig“
Deutsch lernen unter Pandemiebedingungen
Ein Teilnehmer holt sich noch schnell einen Kaffee, eine Teilnehmerin beruhigt ihr Kind, eine andere spitzt ihren Bleistift … gleich beginnt der Unterricht. Die Videoübertragung läuft bereits, Karin Roth-Junkermann, Lehrkraft an der VHS Neuss, begrüßt eine weitere Teilnehmerin im digitalen Klassenraum und bietet einem Teilnehmer, der noch eine Frage zu einem amtlichen Schreiben hat, an, später mit ihm kurz zu telefonieren. Dann geht es los. Punkt neun Uhr begrüßt die Dozentin ihre Lerngruppe: „Guten Morgen! Wie geht es Ihnen heute?“
Sie spricht mit Menschen, die bereits rund 600 Stunden Deutsch gelernt und grundsätzliche schriftsprachliche Kompetenzen an der VHS gewonnen haben und jetzt an einem online-Tutorium teilnehmen. Bis zu 1300 Unterrichtsstunden plus online-Tutorien werden vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) berechtigten Migrantinnen und Migranten finanziert, wenn diese an der VHS Alphabetisierungs- und Deutschkurse für primäre oder funktionale Analphabet*innen oder als Zweitschriftlernende besuchen. „Unter normalen Bedingungen lernen die Teilnehmenden an vier Tagen in der Woche insgesamt 20 Stunden in der VHS. Leider dürfen wir seit Ende Dezember nur noch online unterrichten“, erklärt Volker Woschnik, zuständiger Fachbereichsleiter an der VHS. „Dazu kommen Hausaufgaben, Vokabellernen … es ist also so etwas wie ein Vollzeitjob, an einem Integrationskurs oder Alphabetisierungskurs an der VHS teilzunehmen“.
Die Umstellung auf das online-Lernen ist eine große Herausforderung: „Wir haben die Teilnehmenden sehr gut auf die mögliche Schließung der VHS vorbreitet: Im Herbst haben wir an drei Freitagnachmittagen zusätzlich zum Unterricht mit den Teilnehmerinnen und Teilnehmern geübt, wie man in eine Videokonferenz reinkommt. Wir haben trainiert, wie man auf einer digitalen Lernplattform Übungen macht, welche Regeln für den online-Unterricht gelten und über welche digitalen Kanäle die Teilnehmenden am besten mit uns kommunizieren können“, berichtet Roth-Junkermann. Alle Teilnehmenden lassen sich dennoch über die online-Medien nicht erreichen. Schon aufgrund der technischen Voraussetzungen ist das schwierig: So gut wie alle verfügen maximal über Handys, nicht alle haben ausreichend Datenvolumen, um dem Unterricht zu folgen. „Wünschenswert wäre natürlich, dass Laptops und W-Lan vorhanden wären – aber auch dann würden wir nicht alle erreichen: viele – gerade die Frauen – müssen sich zurzeit um ihre Kinder kümmern, finden in den Unterkünften keinen ruhigen Ort zum Lernen. Bei manchen fehlt sicher auch die Motivation“.
Diejenigen, die sich um neun Uhr im online-Unterricht einfinden, sind dafür hochmotiviert. Thema diese Woche: Straßenverkehr. „Ich kenne das! Das ist Stadt Neuss“ ruft eine Teilnehmerin in die Gruppe, als der Unterricht mit einem kurzen selbstgedrehten Film beginnt, der die Verkehrssituation rund um das Romaneum in Neuss zeigt. Auf die Frage „Was haben Sie gesehen?“ prasseln die Antworten nur so los: „Ich sehe die Theater“ – „Genau, das Theater“ wiederholt Roth-Junkermann. „Ich sehe die Volkshochschule und ich sehe Menschen“, „Ich sehe die Haltestelle und Aldi“ ergänzen andere. Nur ein Wort stellt alle vor eine wirkliche Herausforderung: „Bür-ger-steig“ wiederholen es alle gemeinsam „Das ist der Weg neben der Straße. Da gehen die Menschen zu Fuß“, vertieft Roth-Junkermann das Wortfeld. Die Arbeit an Wortfeldern ist für die Teilnehmenden sehr hilfreich, um sich in der Sprache und im Leben zurechtzufinden, weiß sie. Entsprechend erstellt der Kurs jetzt gemeinsam eine Mindmap zum Wortfeld „Verkehr“. Hörbeispiele, Videobeispiele, Ankreuzspiele, kurze Grammatikeinheiten, ein Video mit Tricks zum Vokabellernen, Fragerunden und kleine Sprachspiele gestalten den Unterricht spannend. Besonders viel Freude haben die Teilnehmenden, wenn sie in sogenannten Breakout-rooms in Kleingruppen arbeiten können. Die Lehrkraft kann dabei von einem Videokonferenzraum in den anderen wechseln und die Teilnehmerinnen und Teilnehmer individuell unterstützen. „Phasenrhythmisierung und Methodenvielfalt sind beim Online-Unterricht fast noch wichtiger als im Präsensunterricht“, berichtet Roth-Junkermann. Sie selbst ist zwar als ehemalige Schulleiterin und Schulrätin höchst erfahren, hat aber 2020 die Kompetenzen zum digitalen Unterrichten auch erst entwickeln müssen: „An der VHS wurde von Februar bis Mai 2020 eine umfassende Fortbildung für Lehrkräfte angeboten – das war der Einstieg für viele Kolleginnen wie auch für mich in das Lehren mit digitalen Medien. Seitdem haben wir für die Deutschkursleitenden eine Gruppe, in der wir uns gegenseitig kollegial beraten.“
„Ohne die Weiterbildung der eigenen Lehrkräfte wäre es der VHS nicht möglich, ein so umfassendes online-Angebot in der Zeit der Schließung anzubieten: Wir haben bereits in den vergangenen Jahren in die Infrastruktur und die Fortbildung unserer Lehrkräfte investiert. Deswegen konnten wir das 2020 sehr schnell umsetzen. Derzeit hat die VHS rund 100 online-Kurse und Veranstaltungen im Programm,“ berichtet Dr. Marie Batzel, Direktorin der VHS Neuss. „Und es werden täglich mehr. Im Moment sind digitale Bildungsangebote die einzige Möglichkeit für uns, unserem Bildungsauftrag gerecht zu werden. Vor allem aber sehen wir, dass die Teilnehmenden ein großes Interesse daran haben, weiter zu lernen und miteinander in Kontakt zu bleiben.“ Miteinander in Kontakt bleiben möchten auch die Teilnehmenden des Deutschtutoriums: „Ich gehe lieber in die Volkshochschule“, erzählt eine Teilnehmerin. Dort könne sie besser lernen und es mache vor Ort auch mehr Spaß. Aber: Solange das nicht möglich ist, ist sie dankbar dafür, jeden Tag zwei Stunden online unterrichtet zu werden. „Ich habe fertig“, ruft ein Teilnehmer, nachdem er eine Wortschatzaufgabe geschafft hat. Eine andere Teilnehmerin korrigiert „Das heißt, ‚ich bin fertig!‘,“ lacht sie und konzentriert sich wieder auf Karin Roth-Junkermann, die nun die Hausaufgaben erklärt: Vokabeln zum Wortfeld Straßenverkehr lernen, auf der Lernplattform der VHS Übungen machen zu den Verben „einsteigen, aussteigen, umsteigen“ und sich auf das Diktat vorbereiten, dass Morgen online geschrieben wird. Auch wenn der Kurs Spaß macht: Am Ende bleibt Deutschlernen eine große Aufgabe.
Weitere Infos bei der VHS Neuss.
(Stand 19.02.2021, Fi)